Benjamin Bargetzi: Die Welt von morgen – Digitalisierung meets Neuroscience

15. August 2022 – Benjamin Bargetzi

Die Pandemie hat die Funktionalität von Unternehmen und die Art menschlicher Zusammenarbeit grundlegend verändert. Welche Auswirkungen aber hat der Digitalisierungsschub auf das individuelle Gehirn, so zum Beispiel von Führungskräften und Mitarbeitern? Benjamin Bargetzi, international gefragter Experte zur Schnittstelle Digitalisierung und Neuroforschung, über die grossen Trends.

In Geschäftsleitungen rund um die Welt werden wiederkehrend Digitalisierungchecklisten diskutiert, die es abzuhaken gilt. Doch Digitalisierung bedeutet nicht einfach, sich ein neues CRM, eine Cloud oder einen Onlineshop einzurichten und das Thema dann ad acta zu legen. Im Gegenteil, eine seriöse digitale Transformation ist ein niemals endender iterativer Prozess, denn sich transformieren heisst, Seite an Seite mit den Veränderungen der Welt zu wachsen. Dies ist nur dann möglich, wenn eine Brücke zwischen den Faktoren Technologie, Business und Mensch geschlagen wird und eine grundlegende Veränderung über Geschäftsmodelle, Unternehmensvision, Führungsstile, Marketing & Sales, HR und Day-to-Day hinweg stattfindet. Das Vernachlässigen einer dieser drei Faktoren führt unvermeidlich zu Prozessineffizienzen im Alltag des Geschäfts, verpassten strategischen Opportunitäten und kompetitiven Nachteilen.

Insbesondere der Faktor Mensch wird jedoch in vielen Transformationsprozessen nicht richtig mitgeplant, was sich in mangelndem Training, fehlerhafter und demotivierender Kommunikation und der Vernachlässigung von Mitarbeitenden bei der Transformationsplanung auswirkt.

Neurowissenschaftliche Erkenntnisse dazu, wie das menschliche Gehirn mit rapiden Veränderungen umgeht, helfen entsprechend zu verstehen, wie man ein Unternehmen nicht nur auf technologischer und wirtschaftlicher Ebene, sondern auch aus Sicht der Mitarbeitenden erfolgreich in die Zukunft führt. Rapide Veränderungen im Leben des Menschen sind schliesslich nichts Neues, sondern kamen immer wieder im Verlaufe der Evolution vor. Das menschliche Gehirn hat entsprechend ein Kontingent an automatischen Reaktionsmustern entwickelt, um mit solchem Wandel umzugehen.

Stark vereinfacht kann man das menschliche Gehirn so als einen Denkapparat verstehen, welcher aus zwei Subsystemen besteht: einem «langsamen» und analytischen System A, das Informationen gründlich verarbeitet, um rationale Entscheidungen treffen zu können, und einem «schnellen» und instinktiven System B, das Informationen über automatische Heuristiken interpretiert, da die kognitiven Kapazitäten des Menschen nicht ausgeprägt genug sind, um alle von uns wahrgenommenen Informationen gleich tief zu analysieren. Diese Reaktionsmuster haben sich über die Jahrtausende aufgebaut, um effizient auf Veränderungen in der Umwelt reagieren zu können.

Viele dieser unbewussten Reaktionsmuster sind jedoch noch immer an das Steinzeitleben des Menschen und nicht an das – historisch gesehen sehr junge – Leben in modernen Industriegesellschaften angepasst. Dies schafft Raum für oftmals irrationale Entscheidungstendenzen (sogenannte Cognitive Biases; zu Deutsch: kognitive Verzerrungen), die der menschlichen Spezies im Verlaufe der Evolution häufig geholfen haben, in Unternehmen und in unserem Alltag aber zu gravierenden Nachteilen führen können. Der psychologischen Wissenschaft sind heute Dutzende solcher (ehemals adaptiver) Reaktionsmuster bekannt, von denen nachfolgend zunächst drei der prävalentesten vorgestellt werden sollen.

Loss Aversion

Geprägt durch die Gefahren der Steinzeitwelt, hat sich das Muster im menschlichen Gehirn verfestigt, im Schnitt lieber kein Risiko einzugehen, als etwas zu riskieren. Auch wenn es hierbei individuelle Unterschiede gibt, ist der Mensch grundsätzlich evolutionär abgeneigt, Risiken und Unsicherheiten in Kauf zu nehmen. Diese Heuristik schlägt sich auch darin nieder, dass der Mensch fokussierter darauf ist, Verluste zu vermeiden, als gleichwertige Gewinne zu erzielen – ein Phänomen, das als Loss Aversion bekannt ist. Die Vermeidung potenzieller Verluste hat so ein stärkeres Gewicht in unseren Entscheidungsprozessen als das Erlangen potenzieller Gewinne:

«Der menschliche Fokus liegt von Natur aus eher auf dem Negativen.»

Benjamin Bargetzi


Im Kontext der digitalen Transformation bemerkt man entsprechend oft, wie sich Diskussionen eher um Kosten, Risiken und Bedenken drehen statt darum, was für positive Auswirkungen ein neues Trainingsprogramm, eine neue Technologie oder eine neue Geschäftsstrategie haben könnte. Das heisst selbstverständlich nicht, dass man Risiken nicht rational abwägen sollte – der Rat der Neuroforschung ist einzig, sie nicht überzubewerten im Vergleich zu den potenziell gigantischen Vorteilen, die eine digitale Transformation mit sich bringen kann.

Das Kredo der grossen Tech-Firmen lautet entsprechend «Fail Fast, Fail Smart» und drückt genau dieses Mindset aus: Lieber ein Risiko eingehen und dann aus den Fehlern lernen, als die Chance zu verpassen, auf dem Markt relevant zu bleiben. Hierbei werden insbesondere Führungskräfte in die Verantwortung gezogen, mit einem ambitionierten, positiven und erfolgsorientierten Zukunftsbild weg vom Status quo zu führen. Auch auf kommunikativer Ebene ist es entsprechend essenziell, ob eine Veränderung als ein Risiko oder als eine Chance dargestellt wird, und bereits kleine Unterschiede in den Formulierungsweisen dieser Tatbestände können aufgrund der Loss Aversion zu fundamentalen Motivationsunterschieden in Unternehmen führen.

Sunk-Cost Fallacy und Hyperbolic Discounting

Aufbauend auf der Loss Aversion ergibt sich auch die Sunk-Cost Fallacy (zu Deutsch: Trugschluss gesenkter Kosten), bei dem Menschen eine bestehende Lösung aufgrund bereits investierter Ressourcen als höherwertig ansehen, als sie es eigentlich ist.

Der Mensch möchte nicht wahrhaben, dass bisher investierte Ressourcen in eine Strategie A verschwendet waren, und verschwendet deswegen lieber weiter Ressourcen, statt sie in die korrigierte Strategie B zu investieren. Gerade im digitalen Transformationsprozess, bei dem eine Vielzahl von alten Systemen, Prozessen und Strukturen neu erfunden werden müssen, führt dieser Trugschluss oft dazu, dass Unternehmen im Status quo hängen bleiben.

Verwandt hiermit ist auch das evolutionäre Phänomen des Hyperbolic Discounting (sinngemäss: zeitliche Abwertung), durch die das Gehirn kurzfristige und dadurch sicherere Gewinne als höherwertig einschätzt, als grössere Gewinne, auf die es länger warten müsste. Die erfolgreichsten Unternehmen der Welt denken aber längerfristig und nehmen kurzfristige Verluste und Investitionen in Kauf, um später vielfach davon profitieren und sich so auf dem Markt weiter positionieren zu können. «Es ist wichtig, die Mitarbeitenden eng in den Transformationsprozess einzubinden.»

Konklusion

In ihrem Zusammenspiel führen Loss Aversion, Sunk-Cost Fallacy und Hyperbolic Discounting zu Risikoscheue, Fehlinvestitionen und kurzfristigem Denken, wodurch der Digitalisierungsprozess zu langsam, zu vorsichtig, zu wenig ambitioniert und zu kurzfristig angegangen wird. Nonagile Unternehmen fallen so nicht nur immer weiter und weiter hinter ihrer Konkurrenz zurück, sondern verlieren auch die Motivation und die Zuversicht ihrer Mitarbeitenden. Die Lösungsansätze für eine holistische Transformation über Mensch, Technologie und Wirtschaft hinweg sind nicht trivial und bestimmen entsprechend den Unterschied zwischen Gewinnern und Verlierern der Digitalisierung.

Ein Umdenken betreffend Geschäftsmodelle und Arbeitsprozesse ist hierbei genauso wichtig wie das Schaffen einer agilen Unternehmenskultur und einer zukunftssicheren Kommunikation. Die Einflüsse der Cognitive Biases auf den Unternehmenserfolg sind selten unmittelbar erkennbar und begleiten den Menschen doch auf Schritt und Tritt. So ist es umso wichtiger, die Mitarbeitenden eng in den Transformationsprozess einzubinden und eine Kultur zu schaffen, in der jede gute Idee zählt, egal, von wem sie stammt.

Im Sinne der Zukunft: Be Fast, Fail Smart and Dare to Think Big.

Benjamin Bargetzi

Neurowissenschaftler, Experte für Zukunftstechnologien & Change Management - Europas führender Tech-Visionär