Beth Kaplan: Wenn Arbeit dein Leben übernimmt
Der folgende Artikel ist ein Gastbeitrag von Beth Kaplan und beleuchtet ein Phänomen, das viele Berufstätige kennen, aber nur selten benennen können: Wenn der Job nicht nur ein Teil unseres Lebens ist, sondern unsere ganze Identität vereinnahmt. Beth Kaplan zeigt auf eindrucksvolle Weise, wie leicht wir uns im beruflichen Leistungsdruck verlieren – und wie wir den Weg zurück zu uns selbst finden können.
Beth Kaplan: Wenn Arbeit dein Leben übernimmt – und wie du dein persönliches Ich zurückgewinnst
Arbeit sollte ein Teil deines Lebens sein – nicht die ganze Geschichte. Doch was passiert, wenn deine berufliche Identität beginnt, deine gesamte Persönlichkeit zu überlagern? Wenn sie sich ausbreitet, bis sie jeden Winkel deines Lebens ausfüllt und kaum noch Raum für das bleibt, was dich wirklich ausmacht?
In diesem Artikel geht es genau darum – und darum, wie du wieder zu dir selbst findest. Kommt dir das bekannt vor? Hast du dich auch schon gefragt, wie andere damit umgehen? Du bist nicht allein. Lies weiter.
Wenn die Arbeit übernimmt – und wie du dein persönliches Leben zurückeroberst
Wir merken selten den Moment, in dem es passiert.
Am Anfang sieht es aus wie Leidenschaft. Engagement. Ehrgeiz. Wir werfen uns in unsere Arbeit, nennen es „Flow“. Wir lassen das Mittagessen ausfallen oder essen am Schreibtisch, bleiben länger, schreiben noch „eine letzte“ E-Mail um 23:47 Uhr. Es fühlt sich an wie Einsatz. Wie Exzellenz. Doch irgendwann wird dieser Extra-Kilometer zur einzigen Strecke, die wir kennen. Und plötzlich ist Arbeit nicht mehr nur das, was wir tun – sie ist, wer wir sind.
Ich nenne dieses Phänomen „Workplace Identity Dysmorphia“, ein Begriff, den ich in meinem Buch Braving the Workplace: Belonging at the Breaking Point ausführlich bespreche. Es geht um mehr als Stress oder Burnout. Es ist ein schleichender Identitätsverlust, ausgelöst durch die Überidentifikation mit der professionellen Rolle, die wir zu erfüllen gelernt haben. Es ist subtil. Es wird gefeiert. Und es zerstört leise unser Selbstbild.
Im Job sieht es nach Erfolg aus – aber es fühlt sich wie ein Verschwinden an
Dieser Verlust beginnt oft mit der Sprache. Wie oft hörst du bei neuen Bekanntschaften Sätze wie: „Ich bin VP bei [Firma]“ oder „Ich arbeite im Design“? Diese Aussagen sind nicht nur Einführungen – sie sind Codes. Abkürzungen. Mit der Zeit wird der Jobtitel zum Synonym für unsere Identität.
Ich sehe das bei Führungskräften, High Performern, Managern – vielleicht auch bei dir. Menschen übernehmen die Sprache, Werte und Normen ihres Arbeitsplatzes. Sie nicken in Meetings, obwohl ihnen etwas nicht richtig erscheint. Sie lachen über unpassende Witze. Sie schweigen in wichtigen Momenten, um nicht „schwierig“ oder „emotional“ zu wirken. Anfangs nennen wir das Professionalität. Anpassungsfähigkeit. Reife. Doch irgendwann wird daraus etwas anderes.
Die neugierigen, kreativen, kritischen Teile unseres Selbst verschwinden. Die Werte, die uns einst leiteten. Unsere innere Stimme. Was im Job belohnt wird, wird wiederholt – der Rest wird still vergraben. Unsere Persönlichkeit wird flacher. Wir sind leichter „einsetzbar“, aber schwerer wiederzuerkennen – sogar für uns selbst.
Wenn dein Selbstbild zu stark mit deinem Job, Titel oder deiner Leistung verknüpft ist, vergisst du leicht, dass du mehr bist als das. Diese innere Enge wirkt sich nicht nur darauf aus, wie andere dich sehen – sondern auch, wie du dich selbst wahrnimmst. Unbeachtet kann diese Spannung zu emotionaler Erschöpfung, Selbstentfremdung und schließlich Identitätsverlust führen.
Der Fall von Robin: Wenn das Ich im Titel verschwindet
Robin, ein angesehener Professor, war nach außen hin erfolgreich – publiziert, eingeladen, geschätzt. Doch langsam begann er, sich aufzulösen. In neuen Begegnungen stellte er sich nicht mehr mit „Ich bin Robin“ vor, sondern mit „Ich bin Professor Jones“. Anfangs war das Stolz. Doch bald wurde es zu einem Ersatz-Selbst.
Robin hörte auf, radikale Texte zu unterrichten. Er ließ persönliche Geschichten weg, die einst sein Unterricht bereicherten. Je mehr er sich anpasste, desto mehr Lob erhielt er. Doch der Teil von ihm, der einst Fragen stellte und sich selbst treu war, verschwand.
Der wahre Preis der Workplace Identity Dysmorphia
Diese Identitätsverzerrung beginnt schleichend – mit der Sprache, mit kleinen Entscheidungen. Aber sie führt zu einer tiefen inneren Spaltung. Du beginnst, deinem Gefühl zu misstrauen. Du schrumpfst dich, um in eine Rolle zu passen, die du nicht gewählt hast. Selbst wenn alle hinschauen – du fühlst dich unsichtbar.
Das zeigt sich nicht nur emotional, sondern auch körperlich: Schlaflosigkeit, Erschöpfung, innere Unruhe, Magenprobleme. Und weil dein „funktionierendes“ Ich gelobt wird, bleibt dein echtes Ich im Schatten. So entsteht die „Mirror Distortion Loop™“: Je mehr Anerkennung du für eine Version von dir bekommst, die nicht ganz du bist, desto schwerer fällt es, du selbst zu sein.
Außerhalb des Jobs – und trotzdem nie ganz frei
Diese Vermischung von Job und Ich hört nicht nach Feierabend auf. Im Gegenteil: Sie wird spürbarer. Aussagen wie:
- „Ich weiß nicht, wer ich bin außerhalb meines Jobs.“
- „Ich fühle mich nur lebendig, wenn ich Slack-Nachrichten beantworte.“
- „Ich bekomme Panik bei zu viel Freizeit.“
Wenn Identität an Produktivität geknüpft ist, wird selbst Freizeit zur Leistungsschau. Ruhe fühlt sich falsch an. Präsenz wird zur Performance. Und unser Körper leidet mit.
Anzeichen, dass du dich in der Arbeit verlierst
Stress und Burnout sind nicht nur Symptome von Überlastung, sondern von innerer Entfremdung. Weitere Hinweise:
- Du kannst dich kaum beschreiben, ohne deinen Job zu nennen.
- Freizeit verursacht Schuldgefühle.
- Du fühlst dich leer, obwohl du „erfolgreich“ bist.
- Du fühlst dich außerhalb von Meetings sprachlos oder unsicher.
- Du hast ständig das Gefühl, „funktionieren“ zu müssen.
Wenn dir das bekannt vorkommt: Du bist nicht allein.
Zurück zu dir selbst: Fünf erste Schritte
Du musst nicht kündigen, um dich wiederzufinden – aber du musst aufhören, dich selbst der Performance zu opfern.
- Erinnere dich, wer du bist, ohne Titel. Was hat dir früher Freude gemacht, bevor Erfolg gemessen wurde?
- Prüfe deine Grenzen. Nicht alles ist dringend. Du darfst pausieren.
- Entkopple Leistung von Wert. Du bist mehr als Zahlen, Grafiken und E-Mails.
- Sag bewusst Nein. Zum Schutz deiner Energie, deiner Werte und deiner Authentizität.
- Suche echte Zugehörigkeit. Dort, wo du ganz du sein darfst – nicht nur eine funktionierende Version.
Wahre Zugehörigkeit verlangt nicht, dass du dich kleiner machst oder versteckst. Sie lädt dich ein, ganz du zu sein. Sobald du beginnst, dich selbst für Anerkennung zu opfern, verlierst du das, was du suchst. Doch es gibt Hoffnung: Der erste Schritt ist das Erkennen.
Hör auf, dich in Sichtbarkeit hineinzuperformen. Fang an, dein Leben wieder für dich selbst zu leben.
Beth Kaplan ist Expertin und Forscherin zu Führungsstrategien, Mitarbeiterbindung und Zugehörigkeit. Sie gilt als Pionierung der Führungskräfteentwicklung und kann für Vorträge über die Redneragentur Premium Speakers gebucht werden: 1 (704) 804 1054 oder beth.kaplan@premium-speakers.com
